„Idaho? Die haben doch nur große Kartoffeln.“ Der freundliche Officer am Flughafen von San Francisco macht uns mit dem lockeren Spruch nicht gerade Mut für die Tour durch Idaho. Doch er täuscht sich: Kartoffeln sehen wir nur auf unseren Tellern. Ansonsten gibt es im „Gem State“ – Edelstein-Staat – ganz viel zu entdecken und zu erleben. Wir konzentrieren uns bei dieser Reise auf den Süden des Landes. Sand, Felsen und eine Brücke, von der sich viele wagemutige Menschen in die Tiefe stürzen, sind nur einige Beispiele für die Attraktionen dieser Region. Also los geht’s, auf unseren Roadtrip in Süd-Idaho.
Idaho ist selbst für Amerikaner ein eher unbekannter Staat. Umgeben von der kanadischen Provinz Alberta im Norden, Montana und Wyoming im Osten, Utah und Nevada im Süden sowie Oregon und Washington im Westen gehört er mit gerade einmal gut 1,9 Millionen Menschen zu den am dünnsten besiedelten Regionen der 48 zusammenhängenden US-Bundesstaaten. Das Vorurteil, dass es in Idaho nicht viel mehr als Kartoffeln gäbe, ist nicht allzu weit hergeholt. Die Landwirtschaft spielt insbesondere in der südlichen Hälfte des Staates eine wichtige Rolle. Neben den berühmten Idaho Potatoes werden insbesondere Weizen, Gerste und Zuckerrüben angebaut. Selbst einige Dutzend Weingüter gibt es in der Snake River Plain. Milchwirtschaft und Rinderhaltung sind weitere wichtige Zweige des fast zur Hälfte mit Wald bestandenen Idahos. Neben modernen Industriebetrieben spielt nach wie vor der Bergbau eine nicht unwesentliche Rolle. Der Staat gehört zu den bedeutendsten Silber- und Bleiproduzenten des Landes. Der offizielle Beiname „Gem State“ hat daher noch immer seine Berechtigung.
Von Edelsteinen und Kartoffeln bekommen wir auf unserer Tour durch den Süden nicht viel zu sehen – vor allem, weil wir es nicht darauf anlegen. Und auch die riesigen, undurchdringlichen Wälder sind eher in den bergigen Gegenden der Rocky Mountains, der Bitterroot Range an der Grenze zu Montana und der Sawtooth Range zu finden. Letztere beginnen nördlich des Städtchens Argo und des Craters of the Moon National Monuments, einem der Höhepunkte unserer Tour. Doch davon später mehr.
Wir starten in Boise, der aufstrebenden und schnell wachsenden Hauptstadt Idahos. Auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel hat Busfahrer Jack einen interessanten Vergleich zwischen seiner Heimat und Europa parat: „Bei euch in Europa sind hundert Jahre nicht viel, während es für uns eine gewaltige Zeitspanne ist. Aber für uns sind hundert Meilen nur eine kurze Distanz, für euch dagegen eine lange Strecke.“ Es sei schon vorgekommen, dass er nach Twin Falls gefahren sei, nur um eine gute Tasse Kaffee zu trinken. Die 54.500-Einwohner-Stadt im Südosten Idahos liegt zwei Autostunden von Boise entfernt – sofern man auf dem Interstate I-84 bleibt und die erlaubten 75 Stundenmeilen, also 120 Stundenkilometer, voll ausnutzt. Twin Falls gehört auch zu unseren Zielen. Wir wollen aber unterwegs natürlich mehr sehen als nur die für die Gegend typische, von gelegentlichen Farmen unterbrochene, trockene Prärie.
Vom Stadtzentrum aus brauchen wir immerhin eine gute Stunde bis wir nach ca. 70 Kilometer die Interstate verlassen und durch das Städtchen Mountain Home fahren. Einige Kilometer folgen wir nun dem State Highway 51 und queren den Snake River. Dem 1.674 Kilometer langen, im Yellowstone Nationalpark in Wyoming entspringenden Nebenfluss des Columbia Rivers begegnen wir immer wieder auf diesem Trip. Der Fluss ist der Namensgeber der fruchtbaren Ebene im Süden Idahos. Hier ist zugleich das wirtschaftliche Zentrum Idahos mit den größten Städten des Bundesstaates. Geprägt ist die Gegend außerhalb der Ballungszentren durch die Landwirtschaft. Deren Grundlagen sind die künstliche Bewässerung der Ackerflächen mit Wasser aus dem Snake River, seinen Stauseen sowie einem schier unermesslichen Grundwasserreservoir tief unter der Oberfläche.
Geografisch kann die Region als eine 600 Kilometer lange Senke beschrieben werden, die eine Breite von 50 bis 100 Kilometer erreicht und von Wyoming im Osten bis zur Staatsgrenze nach Oregon im Westen reicht. Ein Band aus saftig grünen Wiesen und fruchtbaren Äckern zieht sich auf einer Breite von vielleicht fünf Kilometern auf beiden Seiten am Fluss entlang. Dessen Verlauf ist so schon von weitem aus gut zu erkennen. Wir verlassen ihn aber kurz hinter der Brücke, um nach Osten auf den Idaho Highway 8 abzubiegen, die uns nach wenigen Kilometern zum Bruneau Dunes State Park führt.
Durch das knapp 2000 Hektar große Schutzgebiet schlängelt sich eine Straße, die direkt zu dessen beiden Besonderheiten führt: Das absolute Highlight hier ist natürlich die Sanddüne – mit 140 Metern ist sie nicht nur verdammt steil, sondern auch die höchste ihrer Art in Nordamerika. Für die Leute aus Boise und Umgebung ist der Park der nächstgelegene große Sandkasten. Hier kann man überall herumlaufen, ohne auf Zäune oder Verbotsschilder zu stoßen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Dünen ständig ihre Form verändern. Der Sand ist in Bewegung, wird aber vom Wind mehr oder weniger abwechselnd in nur zwei entgegengesetzte Richtungen getrieben. Mit anderen Worten: Die Dünen bleiben mehr oder weniger an Ort und Stelle – und das angeblich bereits seit 11.000 Jahren, wie Wissenschaftler der Idaho State University festgestellt haben.
Diese geologischen Erkenntnisse sind für uns nebensächlich. Stattdessen machen wir es den zahlreichen Familien nach, die sich hier bereits tummeln und sichtbar Spaß beim Spielen im Sand oder der Abfahrt auf Sandboards haben. Angst vor Sand in den Schuhen oder zwischen den Zehen haben wir nicht. Auf dem Kalender steht zwar nichts von Sommer, an der vom Sand absorbierten trockenen Hitze an diesem späten Vormittag ändert das aber nichts und das Erklimmen der Düne durch den tiefen Sand ist ziemlich anstrengend. Belohnt werden wir mit dem herrlichen Rundumblick von oben. Zu unseren Füßen liegen die beiden Seen, über denen gerade eben noch ein Blue Heron geflogen sein soll.
Wer auf einem der beiden Campingplätze übernachtet, für den bietet sich ein Besuch im Bruneau Dunes Observatory an, das von April bis Oktober an Freitagen und Samstagen geöffnet ist und einen besonders schönen – und vor allem von Lichtquellen ungestörten – Blick auf den nächtlichen Sternenhimmel ermöglichen soll.
Wir haben diese Gelegenheit nicht, da wir weiter nach Osten wollen. Auf dem Idaho 78 und die Interstate fahren wir nach Glenn’s Ferry. Bis Ende der 1860er Jahre befand sich nicht weit von dem heute 1300 Einwohner zählenden Dorf eine der bekanntesten und heimtückischsten Furten über den Snake River. Tausende Siedler passierten die Three Island Crossing genannte und heute als State Park mit einem Museum ausgewiesene Stelle. 1869 baute Gustavus Glenn drei Kilometer flussaufwärts eine Fähre, die Platz für zwei Wagen bot und den Weg um 30 Kilometer abkürzte.
Nach einem Bummel geht es zurück auf die Autobahn, die wir an der Abfahrt zum Highway 30 in Bliss endgültig verlassen. Die Landstraße trägt hier den Beinamen Thousand Springs Scenic Byway. Sie folgt jetzt dem zur Schlucht verengten Lauf des Snake. Südlich von Hagerman tritt konstant 14 Grad warmes Wasser in ungezählten Quellen aus der Felswand. Es hat seinen Ursprung fast hundert Meilen entfernt im Bereich des Craters of the Moon National Monuments.
Apropos National Monument: Wir befinden uns gerade in einem anderen – im Hagerman Fossil Beds National Monument. Es gilt als einer der weltweit besten Plätze, um vorhistorisches Leben zu erforschen. Wir steuern einige Aussichtspunkte hoch über dem Fluss an, genießen die Landschaft ohne uns aber auf die Suche nach den Fossilien zu geben. Im Ort schauen wir uns ein den baskischen Schafzüchtern gewidmetes Denkmal an. Zwischen Bürgerkrieg und Erstem Weltkrieg war die Region eine Hochburg der Schafzucht. Hinter dem Ort biegen wir ab zum Oregon Trail Overlook. Hier kann man auf einem Pfad, entlang von Spuren, die die Wagen der Siedler hinterlassen haben, der Originalstrecke folgen.
Zurück auf dem Highway 30 stellt sich in der nächsten halben Stunde eine knifflige Aufgabe. Wir wollen den Balanced Rock sehen und uns dort etwas die Beine vertreten. Allerdings übersehen wir unterwegs sämtliche Hinweisschilder – sofern es welche gibt – und fahren einen Umweg. Der lohnt sich aber, wie schnell klar wird. Südlich von Buhl geht es durch eine Schlucht und wenig später thront hoch über der Straße die Felsformation. 40 Tonnen soll der 16 Meter hohe Stein wiegen, der nur auf einer knapp halben Meter breiten Stelle den Boden berührt und jeden Moment den Berg herunterzufallen scheint. Das macht er aber natürlich nicht.
Der Rest der Strecke nach Twin Falls führt fast ausschließlich zwischen Äckern hindurch, die von der einen oder anderen Farm unterbrochen werden. Straßen scheinen sich hier grundsätzlich nur im rechten Winkel zu kreuzen. Kurven? Fehlanzeige. Wir steuern am Stadtrand die mehr als 100 Jahre alte und fast 200 Meter hohe Perrine Brücke an, die die hier enge Felsenschlucht des Snake River überspannt. Sie ist im ganzen Land berühmt und beliebt bei Basejumpern. Das hat seinen Grund: Es ist der einzige Ort in den USA, wo dieser Extremsport das ganze Jahr über ohne Sondererlaubnis ausgeübt werden kann. Wir kommen gerade richtig, um einer Gruppe von vielleicht einem Dutzend junger Leute zuzuschauen, wie sie sich wagemutig von einem Sims am Rand der Brücke stürzen. Sekunden später geht der Fallschirm auf und der Springer schwebt dem Ufer entgegen.
Es ist zwar schon früher Abend, aber noch ist es hell genug, um ein in Nordamerika einmaliges Naturschauspiel anzuschauen: die jetzt in das weiche Licht der tiefstehenden Sonne getauchten Shoshone Falls. Die auch als Niagarafälle des Westens bezeichneten Wasserfälle etwa fünf Kilometer außerhalb von Twin Falls gelegen, darf man bei einem Besuch der Stadt nicht verpassen. Das Wasser des Snake River stürzt hier über eine knapp 300 Meter breite Kante 65 Meter in die Tiefe – die Shoshone Falls sind damit sieben Meter höher als der berühmte Vetter im Osten. Besonders spektakulär sind die Fälle zwischen April und Juli. Dann ist der Wasserstand am höchsten. Wir haben daher einen recht guten Zeitpunkt erwischt und sind längst nicht allein in der Parkanlage an den Fällen. Hier herrscht Hochbetrieb. Neben dem Wasser haben es einige Tiere den Besuchern angetan. So schlängelt sich eine kleine Schlange gemächlich unterhalb der Aussichtsplattform am Fels entlang. Und einige Meter weiter lassen sich zwei Marmots, Murmeltiere, nicht bei ihrem Dinner stören. Sie sitzen in einem Baum und laben sich an dessen Blättern.
1869 wurde unterhalb der Fälle Gold entdeckt, was zu einem kurzen, aber heftigen Goldrausch führte. 400 englische Goldgräber kamen in den Canyon und an den Ufern des Snake River entstanden mehrere Bergbau-Camps. Bereits zehn Jahre später waren alle Goldvorkommen erschöpft.
Auch wir können eine Pause gut vertragen, steht am nächsten Tag doch ein besonderer Ausflug auf dem Programm. Wir haben uns einen Besuch im Craters of the Moon National Monument vorgenommen, das nach einer Erweiterung vor einigen Jahren immerhin fast die Hälfte der Fläche des Yellowstone Nationalparks umfasst. Von Twin Falls aus fahren wir fast zwei Stunden nach Norden. Unterwegs wechseln bewässertes Farmland und trockene Prärie. Irgendwann wird der Boden links und rechts des Highways felsiger und die Erde dunkler. Es sind die ersten Ausläufer von Lavaflüssen vergangener Jahrtausende. Wir nähern uns also dem Ziel.
Dieses ist keine Schönheit im klassischen Sinne. Die Formationen hier sind aber so fremdartig, dass sie einem fast zwangsläufig in ihren Bann ziehen. Ihren Namen erhielt die Gegend schon lange bevor der erste Mensch seinen Fuß auf den Mond setzte. Er überzeugt noch immer, wenngleich die Krater auf dem Erdtrabanten von Meteoriteneinschlägen herrühren und nicht vulkanischen Ursprungs sind wie jene hier im Südosten von Idaho. Es gibt noch eine weitere Verbindung, denn US-Astronauten trainierten hier kurzzeitig für die Apollo-Mondmission.
Wir stoppen zunächst am Besucherzentrum und decken uns dort mit Informationen und Wasser ein. Denn die Sonne ist unerbittlich, während die schwarzen Lavafelder die Hitze noch verstärken. Auffallend sind die zahlreichen Blumen, die ganze Hänge in bunte gelb- oder blaublühende Felder verwandeln. Entlang der elf Kilometer langen Schleife durch die wichtigsten Lavafelder, vorbei an Schlackekegeln und bizarren Formationen, laden zahlreiche Stopps zu meist kurzen Spaziergängen ein. Unser Favorit ist der steile Anstieg hinauf auf den Inferno Cone, auf dessen „Gipfelplateau“ uns ein heftiger Wind erwartet. Der fantastische Rundblick entschädigt aber für die kurze Anstrengung, die viele der jährlich 200.000 Besucher auf sich nehmen. Andere Höhepunkte im Park sind die Lavahöhlen, die abgesehen von einer Lichtquelle ohne weitere Ausrüstung – aber teilweise auf allen Vieren kriechend – erkundet werden können.
Wir begnügen uns mit einigen kurzen Abstechern und lassen später den Tag an einem besonderen Ort ausklingen. Eineinhalb Stunden von den Craters of the Moon entfernt erreichen wir Ketchum im Sun Valley, das einst das erste Skiresort in den USA war. Hier in den Sawtooth Mountains übernachten wir zwar nicht in der altehrwürdigen und noblen Sun Valley Lodge. Wir begeben uns aber auf die Spuren von Nobelpreisträger Ernest Hemingway, dem hier eine eigene Suite gewidmet ist, und dinieren im gemütlichen Sawtooth Club, dem Stammlokal des Schriftstellers – ein würdiger Abschluss unserer Tour durch den Süden Idahos.
Photos: Beate Kreuzer; Visit Idaho; Visit Southern Idaho; NPS