Das etwas andere Texas
Austin – absolut authentisch, ausgefallen und abwechslungsreich. Die Hauptstadt des eher konservativen US-Bundesstaates Texas gilt als ungewöhnlich liberal und alternativ. Das offizielle Motto lautet „Keep Austin Weird” (Halte Austin eigenartig). Die knapp 1 Mio.-Einwohner-Stadt will in die geordneten Verhältnisse von Texas überhaupt nicht hineinpassen. In Austin herrscht eine zwanglose Atmosphäre, die durch Künstler und Studenten geprägt ist. Der Groove der Stadt verspricht jedem Besucher eine gute Zeit voller Begeisterung, Bewegung und Rhythmus. Ich nehme mir 3 Tage, um die unterschiedlichen Facetten der Stadt kennenzulernen.
A Capella
Musik gibt den Takt an. Überall ist Livemusik zu hören – auf der Straße, am Flughafen, in Clubs, Cafés, Hotellobbys, selbstverständlich in Konzerthallen und manchmal sogar in Stadtratsversammlungen. Die bekannte Musikshow Austin City Limits wird vor Ort aufgezeichnet und das berühmte Musikfestival South by Southwest (SXSW) findet hier jeden März statt und lässt Musikfans in anderen Sphären schweben. Austin wird zum Hauptumschlagsplatz für Musiker, Sänger, Produzenten, Manager und Plattenfirmen. Fünf Tage lang stehen etwa 1.000 Auftritte an, die auf mehr als 40 Bühnen vonstatten gehen. Die Teilnehmer stammen aus aller Welt und es ist keine Seltenheit, dass Größen wie James Blunt hier entdeckt werden.
Was einst als Plattform für unbekannte Musiker begann, hat sich zu einem Marketing Event entwickelt. Lady Gaga stand hier schon in einer Fleischerschürze auf einer vom Snackhersteller „Doritos” gesponserten Bühne, sang ihren Titel „Swine,“ während neben ihr eine ebenso minimal bekleidete Frau einen grünen Saft trank, sich den Finger in den Hals steckte und dann das satte Grün voll auf Lady Gaga spuckte und so die Schweinerei passend zum Song lieferte. Doch neben allem Schnick Schnack und Marketinggags, geht es hauptsächlich um Musik. Latin Rock Bands aus Mexiko, Countrysänger aus Nashville, Indie Bands aus England, Rapper aus New York oder Techno aus Kalifornien – etwas für jeden Geschmack. Im Rahmen des Festivals finden nicht nur Workshops und Ausstellungen zum Thema Musik statt, sondern auch Konferenzen zu Film- und Internettechnologien.
Austin hat sich seinen Ruf als Welthauptstadt der Musik wirklich verdient. Selbst New York oder Nashville können kaum mithalten. Das akustische Zentrum und Hauptschlagader des Nachtlebens ist die Sixth Street, die zum historischen Teil der Stadt gehört. Donnerstags, freitags und samstags wird die Straße für den Autoverkehr gesperrt. Menschentrauben schieben sich von Club zu Bar; Austin bietet nicht nur was fürs Ohr, sondern auch fürs Auge. Blickfänge und Hingucker gibt es überall: Himmelblaues Haar oder pastellrosafarbene Strähnen, entzückendes Mädchenkleid mit zerrissener Strumpfhose, Ballerinaschuhe und verschmierter Lippenstift im Gesicht, Bärte in allen Längen, gezwirbelt und geflochten, statt iPhone ein knallroter Plastiktelefonhörer am Ohr, aber auch Laufstegmode aus aller Welt. Jeder lebt seinen persönlichen Stil aus.
Die Vielfalt der Mode- und Musikszene lässt sich dadurch erklären, dass in Austin so viel los ist und unterschiedliche Kulturen für Abwechslung sorgen. Austin rockt und beschränkt sich nicht nur auf ein Genre. Junge Bands für junges Publikum spielen im Spider House Ballroom in der 29th Street. Der Elephant Room in der Congress Avenue ist durch Jazzkonzerte bekannt geworden, hier sind sowohl Janis Joplin als auch Billie Holiday aufgetreten. Wo immer man hinläuft – Musik kennt keine Grenzen. Es ist schwierig, sich davon nicht anstecken zu lassen. Ich fühle mich fast wie ein Teenager, laufe beschwingt durch die Straßen und trällere immer wieder einen neuen Ohrwurm.
Aktiv
Anders als in anderen amerikanischen Städten gibt es in Austin viele Fußgänger. Zwischen Hochhäusern, Hotels und Bankfilialen drängen sich in der Innenstadt die Menschen. Die meisten strömen Richtung Wasser zum Lady Bird Lake. Es ist ein künstlich angelegter See mit einer Fläche von etwa 190 Hektar im Herzen der Stadt, der diese in zwei Hälften teilt. Rund um den See ist A wie „AKTIV” angesagt. Yoga unter freiem Himmel und auf dem Wasser, Tai-Chi Gruppen auf grünen Wiesen, jede Menge Laufstrecken und im See selbst findet man alles, was bewegt werden kann. Paddeln ist angesagter denn je.
Mehr Wasseraktivitäten sind am Lake Austin möglich, einem Stausee am texanischen Colorado Fluss. Abkühlung gibt es außerdem im Barton Springs Swimmingpool, einem Schwimmbad, dessen Wasser aus einer natürlichen Quelle stammt, entsprechend kalt ist und bei Temperaturen um die 40 Grad im Sommer die ultimative Erfrischung bietet. Barton Barks (Bellen) ist ein Ausläufer des natürlichen Pools, der absoluten Wasserspass für Hunde bringt. Austin ist eine der grünsten Städte in Texas, zudem hundefreundlich und liefert seinen Vierbeinern reichlich Auslaufflächen ohne Leine. Durch zahlreiche Parks und Grünflächen genießen Austins Hunde mit ihren Besitzern hohe Lebensqualität und große Freiheit. Hunde im Stadtbild sind eher normal, weniger normal sind Fledermäuse.
Absonderlich
Mehr als doppelt so viele Fledermäuse als Einwohner, man schätzt eine Population von 1,5 Millionen, leben unter der Congress Avenue Brücke. Im Frühling fliegen sie aus ihrer Heimat Mexiko in nur einem Tag nach Austin. Sie können bis zu 100 Stundenkilometer schnell fliegen und erreichen eine Höhe von fast 3.000 Metern. Warum ausgerechnet Austin, weiß keiner so genau. 1980 wurden bei einer Sanierung der Brücke auf der Unterseite Dehnungsfugen mit einer Breite von ca. drei Zentimetern eingeritzt, damit der Beton in der Hitze nicht rissig wird. Hier lassen sich die Fledermäuse nieder. Bei Sonnenuntergang und fast immer noch 30 Grad versammeln sich jeden Abend Menschenmengen auf der Brücke und Boote unter der Brücke, um ein einzigartiges Spektakel zu beobachten.
Die Show beginnt: Von einer Sekunde auf die andere steigt ein wie im Wind wehender Seidenschal unter den Brückenpfeilern empor, ein zweiter und dritter folgen und gemeinsam wirbeln die Fledermäuse minutenlang am Himmel und genießen ihr Nachtmahl. Pro Ausflug fressen die Fledermäuse 13 Tonnen Insekten. Mücken gibt es dadurch in Austin trotz hoher Luftfeuchtigkeit und viel Wasser so gut wie gar nicht. Ein Surren liegt in der Abendluft und die Menschen verlassen die Szene. Es dauerte eine Weile, bis sich die Bewohner mit den Fledermäusen arrangiert hatten. Aus Angst vor Tollwut plädierte die Stadtverwaltung für Ausrottung, doch Tierschützer intervenierten. Mittlerweile ist es eine der Attraktionen – nicht nur für Touristen – geworden.
À la Carte
Essen und Trinken verbindet Menschen, Nationen und Generationen. Für viele Chefköche in Austin ist die Herkunft der Lebensmittel immer wichtiger geworden. Preiswert, hip und einfallsreich ist Second Bar & Kitchen. Modern und schlicht gestaltet – trotzdem gemütlich. Leichte Küche, stilvoll harmonisch präsentiert. Für alle Freunde von Gazpachos (kalte Suppen): unbedingt Möhren Gazpacho mit Koreander, Ingwer, Fenchel und Erdnüssen probieren. Kreative Küche – sehr interessant und schmackhaft.
Schauspielerin Sandra Bullock sorgt auch dafür, ihre Wahlheimat mit einer schönen Geschäftsidee zu bereichern. Bei Walton’s Fancy & Staple bekommt man leckeres Essen, von morgens bis abends, dazu werden dort Blumen und ausgefallene Geschenke angeboten.
Immer neue Coffeshops sprießen in Schallgeschwindigkeit aus der Erde. Doch einer mit langjähriger Tradition ist Jo’s mit drei Filialen. Die berühmteste ist im Hip-Viertel „SoCo” (South Congress) mit dem Graffiti „I love you so much”. Die in Austin ansässige Sängerin Amy Cook hat die Wand an einem Abend besprüht, um ihre damalige Freundin und Besitzerin von Jo’s, Liz Lambert, ein wenig aufzuheitern. Heute suchen zahlreiche Touristen den Laden auf, um Hochzeits- oder Erinnerungsfotos zu machen. Liz Lambert ist in der Stadtgeschichte von großer Bedeutung. Die ehemalige Juristin führt mehrere Boutique Hotels in Austin. Eines davon ist das Schatzkästchen Saint Cecilia, ebenfalls in SoCo gelegen. Außen weiß und unauffällig; innen mutige, knallige Farben, erlesene Antiquitäten, teuerste Matratzen und eine Schallplattenbibliothek. Die Lounge ist allein den Gästen vorbehalten und der Barkeeper serviert ausgefallene Rock’n Roll Cocktails. Liz plant weitere individuelle, kleine Hotelprojekte in ganz Texas. Ihr Motto: Arbeite hart, reise viel, halte immer die Augen offen!
Abgefahren
Essen auf Rädern. Rollende Restaurants erobern die Straßen von Austin. Die Food Trucks, eine Art Imbisswagen, findet man an jeder Ecke. Manchmal auch in größeren Ansammlungen, sodass vom Appetizer bis Dessert alles an einem Platz konsumiert werden kann. Grell lackiert mit riesigen Werbeschildern kurven sie durch die Straßen und platzieren sich zur Rush-Hour an belebten Orten. Effizienter, kreativer und profitabler. Hauptsächlich verkaufen sie Tex Mex Food (Texanisch-Mexikanisch). Außerdem Tacos, Bratwürste, Kebab, Crêpes und Frittiertes. Doch seit neuestem ist grün und gesund angesagt.
Die Food Truck-Welle hat ein neues Niveau erreicht. Statt Burger und Donuts – doch lieber Rohkost, Sushi und frisches Obst. Grünkohl-Smoothies mit Banane setzen sich immer mehr durch und werden besonders gerne nach einer Joggingrunde geschlürft. Statt Kantinenessen oder der Stulle von Zuhause, kommt mit den Food Trucks neues Leben in den Ernährungsalltag. Nie hätte ich gedacht, dass mich diese Art von Weltküche so begeistern könnte. Essen auf Rädern – lecker, frisch, mobil und unter freiem Himmel.
Ausgeflippt
Immer mehr ausgefallene Läden bereichern den Shopping-Schauplatz Austin und es entsteht langsam aber sicher ein Mekka für „Fashionistas”. Lifestyle, trendige Accessoires und kunterbuntes Durcheinander. Neue Ladenkonzepte, weniger Einkaufsketten. Einige Läden in SoCo, South Congress Avenue, sollten bei einem Besuch in der Stadt auf der To-Do-Liste stehen. Uncommon Objects, mit irren Skulpturen und Installationen und viel Schrillem aus zweiter Hand lädt zum Stöbern und Zeit vergessen ein. Je schräger, desto besser. Filzhandpuppen, alte Playmobile, 70er Jahre Schmuckstücke und Reptilienpanzer.
Big Top Candy Shop auf der South Congress Ave ist ein zuckersüßes Vergnügen. Hier begibt man sich auf Entdeckungsreise in die amerikanische Schleckereienwelt. Über 3000 Bonbons, nostalgisch, modern – bunt verpackt oder am Stück – jeder findet hier seine ganz persönliche Nascherei.
Attribute
Große Arbeitgeber der Stadt sind im Bereich Social Media und IT angesiedelt. Deshalb wird Austin in Anlehnung an „Silicon Valley” in Kalifornien und in Anlehnung an die Hügellandschaft vor Ort „Silicon Hills” genannt. Dell, Facebook, Google, IBM, Apple sind nur einige hier vertretene Unternehmen. Aufgrund der Wirtschaft und Infrastruktur müssen die Stadtväter ihren Anwohnern auch etwas bieten, deshalb sind Kunst und Kultur besonders groß geschrieben. Die Einwohner von Austin sind überdurchschnittlich bildungshungrig. Das kann man natürlich der renommierten Universität zuschreiben. Tatsache ist, dass das Bildungsphänomen weit darüber hinaus reicht. Es entstehen ständig neue Konzertsäle, Museen und Galerien. Beim Streifzug durch die Museen begegnet man auch einer deutschen Künstlerin. Im Elisabet Ney Museum in der East 44th Street stehen im ehemaligen Studio der Bildhauerin, die 1970 starb, noch über hundert Arbeiten. Es handelt sich hauptsächlich um Büsten wichtiger Politiker aus den USA und Europa.
Austin ist ein hipper Trendsetter in allen Bereichen. Die Menschen sind freundlich und kommunikativ. Bei aller Coolness ist es eine der saubersten, sympathischsten und gastfreundlichsten Städte in den USA. Leidenschaftlich, voller Seele und absolut einzigartig.
Photos: Visit Austin; Travel Texas