„Passt auf, falls Crazy Horse niesen muss”, warnt Jim Hattervig und verteilt Schutzhelme. Der Hinweis ist nicht ganz ernst gemeint – aber man kann ja nie wissen. Immerhin bietet die Nase über den Köpfen der Besucher locker Platz für das Triebwerk eines Jumbo-Jets. Der Hubschrauber, der gerade von links auftaucht, wirkt daneben wie eine lästige Fliege. Kein Wunder bei diesen Dimensionen: Allein das Gesicht des Mannes ist so hoch wie ein neunstöckiges Haus; der Pferdekopf entspricht 22 Etagen; auf dem ausgestreckten Arm finden 4000 Menschen Platz. Insgesamt hat das Monument eine Höhe von 172 Metern und ist 195 Meter lang – dereinst wird es die grösste von Menschenhand geschaffene Skulptur sein.
Was hier inmitten der Black Hills von South Dakota entsteht, ist ein Jahrhundertprojekt im wahrsten Sinne des Wortes. Seit sechseinhalb Jahrzehnten wird am Crazy Horse Memorial gebohrt, gesprengt und gemeisselt. Das Gesicht des legendären Indianerführers ist seit 1998 fertig; der Pferdekopf gut zur Hälfte. Vom Rest lassen sich allenfalls die Konturen erahnen. Die Fertigstellung wird noch auf sich warten lassen – auch wenn sie immer wieder für „Montag” angekündigt wird. Casimir Ziolkowski, der schon als Sechsjähriger mit der Schaufel am Memorial arbeitete, kann sich bei der tausendfach gehörten Frage ein Lachen nicht verkneifen. Auf einen Termin festlegen will er sich nicht: „Ich kann ich nicht abschätzen, ob das noch in diesem Jahrhundert sein wird. Wir arbeiten weiter, solange wir Arbeit haben. Es gibt keinen Zeitdruck. Es gibt zu viele Leute, die an dieses Projekt glauben.” Zu diesem gehören neben dem Denkmal weitere Vorhaben. „Korczak hat immer von einer Universität geträumt”, erzählt seine Witwe Ruth, die am Crazy Horse Memorial selbst im Alter von 85 Jahren noch die Fäden in der Hand hat.
Inzwischen wurden Unterkünfte gebaut und vor zwei Jahren bot die Indian University of North America erstmals Sommerkurse auf dem Gelände an. Zu diesem gehört auch ein modernes Besucherzentrum mit zwei Kinosälen, in denen regelmässig Filme über die Entwicklung des Crazy Horse Memorials gezeigt werden. Einen breiten Raum nimmt das Indian Museum of North America mit seiner aussergewöhnlichen und vielfältigen Sammlung von Kunstwerken, die die Geschichte und Kultur der verschiedenen Indianerstämme darstellen. Und in Korczak’s Studio und Wohnung können Besucher einen Blick hinter die Kulissen werfen.
Während die Präsidentenköpfe im dreissig Kilometer entfernten Mount Rushmore innerhalb von 14 Jahren durch 400 Arbeiter geschaffen wurden, geht es bei Crazy Horse vor den Toren von Custer langsamer vorwärts. Das ist vor allem darin begründet, dass Ziolkowski bewusst auf staatliche Mittel verzichtete und in den ersten Jahren auch in Bezug auf die Arbeitskraft weitgehend auf sich allein gestellt war. In den vergangenen Jahren hat sich das Tempo der Arbeiten deutlich erhöht. Zum einen, weil Gönner modernere Maschinen – und Geldbeträge in Millionenhöhe – gestiftet haben. Zum anderen aber auch, weil die Crew aus neun Männern seit eineinhalb Jahrzehnten in weitgehend unveränderter Besetzung tätig ist und inzwischen von ihren vielfältigen Erfahrungen zehren kann.
Jim Hattervig ist für diejenigen der jährlich eine Million Besucher zuständig, die Crazy Horse direkt in die Augen blicken wollen. Die meisten Leute lassen sich für wenige Dollar mit einem alten Schulbus lediglich an den Fuss des Thunderhead Mountain bringen. Hier bekommen sie immerhin einen kleinen Eindruck dessen, was an Arbeit, Entbehrungen und Aufwand, aber auch an Gefahren, an Mut und an Durchsetzungskraft in diesem Projekt steckt. Eine weitere Möglichkeit, dem steinernen Antlitz ganz nahe zu kommen, besteht im Juni. Dann steht der Volksmarsch an. Der Ablauf ähnelt einem Volkswandertag in Deutschland: Gegen eine kleine Gebühr darf man zehn Kilometer durch den Wald bis hinauf auf den Arm von Crazy Horse und wieder zurück laufen – beeindruckende An- und Einblicke eingeschlossen.
Aus jedem Satz, den Jim von sich gibt, ist die Bewunderung für Korczak Ziolkowski herauszuhören. Der Bildhauer mit polnischen Vorfahren – in der Anfangszeit in der Region als „der verrückte Pole“ bezeichnet, wie sich sein Sohn erinnert – hat das Vorhaben gemeinsam mit seiner Frau Ruth und den zehn Kindern praktisch allein gestemmt. Seit Korczaks Tod 1982 wird es von seiner Witwe und einigen ihrer Kinder fortgeführt.
Ziolkowski erhielt 1939 einen Brief von Henry Standing Bear. „Meine Kollegen und ich möchten, dass der weisse Mann weiss, dass auch der rote Mann grosse Helden hat”, schrieb der Sioux-Häuptling dem 1939 auf der New Yorker Weltausstellung mit einem Preis ausgezeichneten Künstler. Der hatte kurzzeitig an Mt. Rushmore mitgearbeitet. Nun sollte er in das den Sioux heilige Gebirge zurückkehren und ein Monument zu Ehren der Urbevölkerung schaffen.
Bei der Suche nach einem geeigneten Vorbild fiel die Wahl auf Crazy Horse. „Der wurde nie im Kampf gegen die Weissen verletzt, geriet nie in Gefangenschaft und nahm nie einen Stift in die Hand, um einen Vertrag zu unterzeichnen”, erzählt Jim. „Als das Überleben in Freiheit wegen des fehlenden Wildes immer schwieriger wurde, führte er seine Leute ins Reservat nach Nebraska. Dort wurde er von einem Soldaten mit einem Schuss in den Rücken umgebracht.” Das war am 6. September 1877 – auf den Tag genau 31 Jahre später wurde in Boston Korczak Ziolkowski geboren.
„Wo ist Dein Land jetzt ?”, wurde Crazy Horse von einem Siedler spöttisch gefragt. Der Häuptling zeigte mit dem linken Arm über den Kopf seines Pferdes und antwortete: „Mein Land ist, wo meine Toten begraben liegen.” Diese Begebenheit wählte Ziolkowski zum Motiv für das Memorial. Von dessen gigantischen Ausmassen war noch keine Rede, als Ziolkowski 1946 nach South Dakota reiste, um einen Standort zu suchen. 30 Meter hoch sollte das Denkmal werden, zehn Jahre seine Fertigstellung in Anspruch nehmen. Während er ein Blockhaus baute, kam er zu der Erkenntnis, dass ein Monument dieser Grösse an der 200 Meter hohen Granitwand zu kümmerlich aussehen würde. So entschloss sich der damals 37-jährige, den kompletten Berg zu bearbeiten. Damit hatte er sich eine Herkulesaufgabe aufgeladen: „Dieses Projekt wurde mit 174 Dollar in der Tasche und einem Traum begonnen. Sehen Sie, wo wir heute sind, wie weit wir gekommen sind”, sagt Korczaks Witwe Ruth.
1948 wurden mit der ersten Sprengung zehn Tonnen Gestein abgetragen – heutzutage sind es manchmal mehr als 1000 Tonnen pro Sprengung. Insgesamt dürften es zehn Millionen Tonnen sein. „Er arbeitete allein, musste sprengen, planen, Haus und Strassen bauen und das Material über eine Leiter 741 Stufen nach oben bringen. Wenn die Technik streikte, musste er nach unten, um den Kompressor anzuwerfen”, berichtet Jim Hattervig.
1954 erwarb dieser einen gebrauchten Bulldozer. Um der Bevölkerung einen Eindruck zu vermitteln, „mussten die Kinder an Seilen hängend die Umrisse auf den Fels zeichnen. Dabei wurden mehr als 600 Liter Farbe verbraucht.” Jim erzählt auch die vierzig Jahre zurückliegende Anekdote von der Flying Cat, der ‚fliegenden Katze’: „Als Casimir Ziolkowski nach einer Sprengung Gestein entfernen wollte, brach ein Bolzen und der Bulldozer kam ins Rutschen. Das Fahrzeug stürzte den Hang hinab. Sein Vater befürchtete das Schlimmste. Als er feststellte, dass dem Junior nichts passiert war, schickte er ihn los, die Maschine aus dem Morast zu holen und zu säubern.” Der inzwischen 58 Jahre alte Casimir erinnert sich noch gut „an meine Geschichte”. Die Maschine sei immer wieder gegen Steine und Bäume gekracht: „Es hat Spass gemacht. Unten angekommen, bin ich ausgestiegen und nach Hause gegangen.”
Sowohl der Bulldozer als auch er sind noch immer an Crazy Horse beschäftigt. Die Arbeit sei körperlich herausfordernd, auch wenn die Ausrüstung, etwa die Bohrer, leichter zu bedienen sei. 1987 ordnete Ruth an, den Schwerpunkt der Arbeiten vom Pferdekopf auf das Gesicht des Reiters zu verlegen. Eine kluge Entscheidung, denn nun wurde der Fortschritt schneller für jedermann sichtbar – vor allem bei einem Ausflug auf den Arm Crazy Horses. Der starke Eindruck, das detailgenau ausgeführte, plastisch wirkende Gesicht, das einem mit eindringlichen Blick zu mustern scheint, wird durch Jim mit einigen Fakten untermauert. So habe Casimir für das linke Auge fast drei Monate benötigt, für das rechte dann nur noch drei Wochen. Zehn Jahre wurde an dem Gesicht gewerkelt. Für die Feinarbeit wurde eine 1300 Grad heisse Gasfackel benutzt. Hattervig: „Die ist so heiss, dass keine Flamme zu sehen ist – und macht einen Krach wie ein Jumbo.”
Seit einigen Jahren konzentrieren sich die Arbeiten auf die Fertigstellung des Pferdekopfes. Dieser ist mit 66 Metern Höhe der grösste Bereich des gesamten dreidimensional um den Berg gebauten Denkmals, das ein Vielfaches grösser als Mt. Rushmore ist. Von einer Rivalität zwischen beiden Denkmälern will der ehemalige Gouverneur von South Dakota, Mike Rounds, dennoch nichts wissen: „Mt. Rushmore ist eine amerikanische Geschichte, während Crazy Horse die Geschichte der Native Americans, der Indianer, widerspiegelt. Es ist aber auch die Geschichte einer Familie aus South Dakota, die eine Vision hat, und die harte Arbeit nicht scheut, um diese Vision zu vollenden. Man sollte beide Denkmäler zusammen sehen.”
PS: Mrs. Z, wie Ruth Ziolkowski liebevoll genannt wurde, ist leider am 21. Mai 2014 verstorben.
Zu finden unter: Reisen & Abenteuer, South Dakota
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Dieser Artikel erschien in Ausgabe 01/2012 von Spirit of the West Magazine
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