Die tiefste Schlucht der USA
Mancher Mount Everest-Bezwinger vergleicht sein Gefühl auf dem höchsten Gipfel der Erde mit jenem, das er beim ersten Anblick des Grand Canyons in Arizona empfunden hat. Die Schlucht des Colorado ist sicher ebenso überwältigend wie weltberühmt, die tiefste Schlucht der USA ist sie allerdings nicht. Diesen Titel verdient der Hells Canyon des Snake Rivers an der Grenze zwischen Idaho im Osten sowie Oregon und Washington im Westen.
Im Hells Canyon fließt der Fluss bis zu 2400 Meter unterhalb der benachbarten Höhen. Der Schutzstatus als National Wild and Scenic River in diesem Bereich lockt geschichtlich Interessierte ebenso wie jene, die wie wir auf ein feuchtes Abenteuer aus sind. Ob im Jetboot oder im Schlauchboot, für einen wilden Ritt auf den Wellen ist der Snake River immer zu haben.
Die Sonne knallt erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel über dem Hells Canyon. Die Temperaturen nähern sich an diesem Morgen unaufhaltsam der 40-Grad-Marke, als wir gegen 10.40 Uhr endlich ablegen. Die Tour mit Hells Canyon Adventures startet einen knappen Kilometer unterhalb des Hells Canyon Dam von der gleichnamigen Boat Launch. Eigentlich sollten wir längst unterwegs sein, doch unser Captain und Guide Mark hat den Start immer wieder verschoben. Wir warten auf eine Familie, die sich verspätet hat. So etwas kommt hin und wieder vor. Zum einen werden die Entfernungen und insbesondere die Fahrtzeiten durch die fast menschenleere Region zu der Staumauer häufig unterschätzt. Auf der anderen Seite stellen Gäste schlicht ihre Uhr falsch: Zwischen der in Oregon, wo das Boot ablegt, herrschenden Pacific Standard Time und der für Idaho – die letzten Straßenkilometer zum Damm verlaufen in diesem Bundesstaat – geltenden Mountain Standard Time ist eine Stunde Unterschied. Unterwegs quert man mehrfach die Staatsgrenze. Da kann man schon einmal durcheinanderkommen.
Doch nun geht es los. Mit 18 Personen ist das Boot gut zur Hälfte gefüllt. „Die ersten weißen Siedler hier im Hells Canyon gaben ihm den Namen. Sie meinten, hier sei es heißer als in der Hölle“, erläutert Mark mit einem breiten Grinsen. Seine Zuhörer sind ausnahmslos froh, ein Dach über dem Kopf zu haben und während der Fahrt einer frischen Brise ausgesetzt zu sein. So ist die Hitze nicht zu spüren.
Und dann ist es soweit. Wir nähern uns der ersten Stromschnelle. Die Brush Creek Rapids gehören zur Kategorie II. Sie sind relativ leicht zu durchfahren. Dabei soll es natürlich nicht bleiben. Etwas mehr haben wir uns schon erwartet. Schließlich ist der Snake River bekannt für seine Stromschnellen. Und wir werden nicht enttäuscht. Es dauert nicht lange, da kommt das Kommando des Captains, die Schwimmwesten anzulegen. Das ist so Vorschrift. Schließlich könnte jemand über Bord gehen. Tatsächlich müssen wir uns gut am Geländer festhalten und werden immer wieder kräftig durchgeschüttelt, als Mark das Jetboot durch die Wellen und Strudel steuert. „Heute haben wir Stromschnellen bis zur Kategorie IV. Das ist eine nette Frühlingsströmung“, sagt er. Wildwasser der Kategorie IV bedeutet, dass die Durchfahrten nicht ohne weiteres erkennbar sind. Hohe andauernde Schwalle, kräftige Walzen, Wirbel und Presswasser sowie versetzt im Stromzug angeordnete Felsblöcke und höhere Stufen mit Rücksog machen hier die Schwierigkeit für den Bootsführer aus. Der kennt sich natürlich aus und hat keine Probleme, wenngleich das Boot ab und zu einen Schlag abbekommt oder sich wie ein Motorrad in die Kurve legt. Dass ich irgendwann eine volle Breitseite Wasser abbekomme, die ins Boot hereinschwappt, kommt mir gerade recht: Mein Hemd ist nun völlig durchnässt und verschafft so eine zusätzliche Kühlung.
Zwischen den Stromschnellen fließt der Snake River ruhig in sanften Kurven durch das enge Tal. Felsformationen, Plateaus und Seitentäler wechseln sich ab. Sie sind erstaunlich grün. Daher ist es nicht wirklich verwunderlich, dass es bis in die 1970er Jahre hinein im Bereich des Hells Canyons eine ganze Reihe von Farmen gab. Die Familien lebten von Rindern und vor allem von Schafen. 1976 wurde die Gegend durch Präsident Gerald Ford unter Schutz gestellt, sein Nachfolger Jimmy Carter ließ später bestimmte Arten der Bewirtschaftung zu. Heute wird die 2640 Quadratkilometer umfassende Hells Canyon National Recreation Area durch die Forstverwaltung betreut.
Die Wände des Canyons steigen zwar steil, aber nicht senkrecht an. Dennoch drängt sich der Vergleich mit dem berühmten Grand Canyon in Arizona auf. Der wurde vom Colorado River – ähnlich wie der Hells Canyon vom Snake River – in Jahrmillionen in den Boden gegraben. Es gibt weitere Parallelen zwischen den beiden Gewässern, denen auf den ersten Blick ihre unbändige Kraft kaum anzumerken ist. Während der Colorado der bedeutendste Fluss im Südwesten der USA und für die Bewässerung weiter Gebiete etwa in Arizona oder Kalifornien unentbehrlich ist, gilt Ähnliches für den Snake River mit Bezug auf den Nordwesten. Beide werden an etlichen Stellen durch Dämme gezähmt und sowohl für die Landwirtschaft als auch die Stromerzeugung nutzbar gemacht – und beide entspringen in einem Nationalpark. Beim Colorado liegt die Quelle im Rocky Mountains Nationalpark im Westen Colorados, beim Snake ist es die „Mutter aller Nationalparks“, also der Yellowstone in Wyoming.
Folgen wir dem Verlauf seiner 1700 Kilometer bis zum Zusammenfluss mit dem Columbia River, der nach weiteren gut 500 Kilometern nördlich von Portland in den Pazifik mündet: der Snake entspringt an der kontinentalen Wasserscheide. Auf seinem Weg nach Süden fließt er durch den Grand Teton Nationalpark und ist später in Idaho Namensgeber einer Ebene, die über 600 Kilometer in einem weiten Bogen die Region prägt. An den Städten Idaho Falls, Pocatello, Twin Falls und der Hauptstadt Boise vorbei nähert sich der Fluss – immer wieder durch Staudämme gebändigt – Oregon, wo er die Grenze zwischen den beiden Bundesstaaten bildet.
Hier, südlich und damit flussaufwärts von Lewiston, hat sich der Snake River tief in den Felsen eingegraben und bildet den Hells Canyon. Mit bis zu 2410 Metern zählt dieser zwar zu den tiefsten von einem Fluss geschaffenen Schluchten der Erde und übertrifft in dieser Hinsicht den Grand Canyon um das Eineinhalbfache. Mit dessen schier atemberaubenden Weite kann sich der Hells Canyon aber nicht vergleichen, wenngleich die Höhenzüge in Idaho und Oregon bis zu 16 Kilometer auseinanderliegen. Dabei gibt es eine weitere Parallele zum Grand Canyon: die beiden Ränder sind unterschiedlich hoch. Der Snake River fließt etwa 1600 Meter unterhalb des westlichen Randes, aber bis zum östlichen Rand geht es 2300 Meter nach oben. Oberhalb der Rush Creek Rapids bietet der Hat Point Lookout einen spektakulären Blick auf den Canyon. Mit 2128 Metern ist der Aussichtspunkt die höchste Stelle auf der Oregon-Seite der Schlucht.
Die Bedeutung des Snake Rivers wird auch dadurch unterstrichen, dass der Fluss und seine Zuflüsse auf einer Länge von 670 Kilometer als National Wild and Scenic River unter Schutz gestellt sind. Große Teile dieser Strecke liegen im Yellowstone und Grand Teton Nationalpark. Weitere 107 Kilometer beginnen dank Gerald Ford unterhalb des Hells Canyon Dams und umfassen den Hells Canyon of the Snake River, der hier obendrein Teil des gleichnamigen National Recreation Area ist. Der Status als Wild and Scenic River soll die landschaftliche Schönheit sowie kulturelle und historische Bedeutung, den hohen Freizeitwert, geologische Besonderheiten oder eine schützenswerte Tier- und Pflanzenwelt unterstreichen und bewahren.
Mark hat eine ganze Reihe Geschichten auf Lager, die von den Schicksalen jener Familien handeln, die einst im Canyon lebten. Von den Farmen ist zumeist nicht mehr viel übrig, einige werden heute als Camps der Aurüster genutzt, die mehrtägige Rafting- oder Angeltouren auf diesem Abschnitt des Snake Rivers anbieten. Eine der bekanntesten ist die Kirkwood Ranch, wo ein kleines von der Forstverwaltung betriebenes Museum einen Einblick in das karge Leben und die Arbeit auf einer Ranch im Hells Canyon der 1930er Jahre gewährt. Gezeigt werden auch Fundstücke, die von der Besiedlung der wegen der milden Winter sowie der Vielfalt an Pflanzen und Wild attraktiven Schlucht durch Indianer zeugen. Piktogramme und Felszeichnungen an den Wänden des Canyons berichten von Siedlungen etwa der Nez Perce. In den 1860er Jahren wurde in der Gegend Gold gefunden. Es dauerte nicht lange und Glücksritter bevölkerten die Schlucht. Allerdings lohnte sich die Suche kaum. Von den 1880er Jahren an ließen sich viele Siedler als Farmer oder Rancher nieder. Der Großteil von ihnen gab bald auf, wenngleich noch heute innerhalb des Schutzgebietes einige Ranches bewirtschaftet werden.
Wir legen an der Kirkwood Ranch unsere Lunch-Pause ein. Von der Anlegestelle aus schlendern wir an einem Feld mit wildem Getreide, gelbgrünem Gras und einigen altertümlichen Eggen, Pflügen und anderen Landmaschinen vorbei zu besagtem kleinen Museum. Neben einem von Schatten spendenden Bäumen gesäumten Bach nascht ein Reh von saftigen Halmen. Außer dem Reh sehen wir unterwegs einen Weißkopfseeadler. Das US-amerikanische Wappentier lässt sich vor uns auf einem Baum nieder. Von dort aus beobachtet der Greifvogel, wie Mark das Boot über eine der Stromschnellen steuert. Auch anderes Gefieder ist zu sehen, während sich diesmal weder Hirsche noch Steinböcke oder Bären am Ufer blicken lassen.
Für uns heißt es nach der Stärkung, den Rückweg anzutreten – doch vorher steht eine Abkühlung an. Dem klaren, aber eisig kaltem Wasser des Snake River ist bei dieser Bullenhitze einfach nicht zu widerstehen. Nach einigen Runden drängt Mark zum Aufbruch. Vor uns liegen zwei weitere Stunden mit kurzweiligen Geschichten und gut einem halben Dutzend Stromschnellen, die meisten der Kategorie IV, die auf Namen hören wie Sheep Creek, Bills Creek und Rush Creek oder auch Wild Sheep.
Als wir schließlich wieder unterhalb des Hells Canyon Dams anlegen, ist es später Nachmittag. Das luftige Jetboot tauschen wir nun mit dem von der Sonne aufgeheizten Auto – und sind froh, dass die Klimaanlage funktioniert. Fast eine Stunde brauchen wir für die 35 Kilometer auf einer engen Straße, die sich am Stausee entlang nach Oxbow schlängelt. Immer wieder legen wir einen Stopp ein, um die atemberaubende Landschaft zu genießen und die Wassersportler zu beobachten, die zum Teil auf Wasserskiern hinter ihren Booten über den See flitzen.
Die Tour von Hells Canyon Adventures mit Start am Damm – dem untersten von drei, die in dieser Gegend südlich der Schlucht den Snake River zur Stromerzeugung nutzen – ist eine von mehreren Alternativen für eine Bootstour durch den Hells Canyon. Ein anderer Startpunkt ist die Stadt Lewiston. Sie liegt in Idaho am nördlichen Eingang zum Hells Canyon und lässt sich gut in eine Rundreise durch Montana, das nördliche Wyoming und eben Idaho einbinden. Für uns kommt diese Variante diesmal nicht wirklich in Frage, da wir in Oregon unterwegs sind und uns von dieser Seite her Oxbow nähern. Bei der kleinen Siedlung treffen die Idaho Road 71 sowie die Oregon Road 86 aufeinander.
Angesichts der Abgeschiedenheit des Hells Canyon Dam will gut überlegt sein, wo man vor und nach dem Ausflug mit dem Jetboot übernachtet. Mehrere Stunden Autofahrt sollte man einkalkulieren. Wir sind letztlich froh, dass wir nach einer Nacht im altehrwürdigen Geiser Grand Hotel der Kreisstadt Baker City einen weiteren Stopp in der Cornucopia Lodge eingelegt haben. Auf dem Weg nach Halfway fahren wir durch fruchtbares Weideland und haben schon bald die Wallowa Mountains vor uns. Das Haupthaus und die sechs weitläufig auf dem Gelände verteilten Hütten der elf Meilen außerhalb der Ortschaft gelegenen kleinen Lodge sind von der Eagle Gap Wilderness und den Überresten des einstigen Goldgräbernestes Cornucopia umgeben. Die meisten der gut ein Dutzend erhaltenen Gebäude werden als Sommerhäuser genutzt. Von hier zum Ausgangspunkt unserer Wildwasserfahrt sind es etwa eineinhalb Stunden.
Deutlich länger brauchen wir nach der Tour für die 99 Meilen – knapp 160 Kilometer – durch die dicht bewaldeten Wallowa Mountains nach Enterprise. Neben ausgedehnten Bauarbeiten, die nur eine langsame Fahrt ermöglichen, sowie die zahlreichen Serpentinen, die sich die Straße mehrfach hinauf bis zur Baumgrenze und dann ins nächste Tal windet, hat die lange Fahrzeit noch einen angenehmen Grund: wir machen einen Abstecher hinauf zum Hells Canyon Overlook. Der liegt etwa fünf Kilometer abseits der Hauptroute und bietet einen überwältigenden Blick über den Hells Canyon und die Seven Devils Mountains drüben in Idaho. Hier kommt wieder der Gedanke an den Grand Canyon auf. Herrschen dort die Rot- und Brauntöne vor, so wird der Hells Canyon von den unterschiedlichsten Facetten der Farbe Grün beherrscht. Nur den Snake River sehen wir von hier oben nicht. Er fließt verdeckt von Vorsprüngen im Gelände tief unten in der Schlucht.
Photos: Beate Kreuzer; Baker County Tourism