Auf den Spuren von Indiana Jones: Die geheimnisvollen Klippenhäuser der Anasazi
Für Angsthasen ist das nichts. Links droht die blanke Steilwand. Rechts klafft ein schwindelnder Abgrund. Bloß nicht runtergucken. Oder rauf. Nackthalsige Geier kreisen lauernd dort oben. Diese halsbrecherische Holzleiter scheint zwischen Himmel und Erde zu schweben. Zehn endlos lange Meter streckt sie sich durch den leeren Raum. Ihre schlanken Baumstamm-Füße bohren sich in den Felsboden, und das luftige Kopfende lehnt lässig an einer bröckelnden Sandsteinklippe.
Ricky Hayes ist längst oben. „Keep going!” Nur weiter! ruft der indianische Guide aufmunternd und grinst hinunter. Seine schwarzblauen Zopfflechten baumeln lustig im warmen Wüstenwind. Was bleibt einem auf halber Höhe auch anderes übrig. Also die Augen fest auf die groben Leiterstufen geheftet, nur nicht auf das gähnende Nichts dazwischen, und Sprosse um Sprosse zurück ins Mittelalter gekraxelt – in eine Zeit, wo Marco Polo nach China reiste, die Kreuzzüge endeten, Dschingis Khan in Zentralasien regierte und die Anasazi-Indianer ihre abenteuerlichen Alkovenhäuser bauten. Wie Eagle’s Nest (Adlernest) zum Beispiel, die wohl am besten erhaltene Ruinenstätte im Ute Mountain Tribal Park, hier im wilden Südwesten von Colorado.
Der wilde Canyon hat sich tief in den mit knorrigen Kiefern bewachsenen Tafelberg eingegraben. Wie unter die schützende Hand eines steinernen Riesen, so schmiegt sich das lang gestreckte Gemäuer dicht in eine halbmondförmige Felsnische unter den Klippenrand. Der brüchige Sandsteinbau leuchtet in der Sonne. Sogar der helle Fassadenputz ist an manchen Stellen noch erhalten. Eine Reihe von hölzernen Trägern piekt wie überdimensionierte Kleiderhaken durch das Mauerwerk. Archäologen nehmen an, dass diese Stützbalken einst das Fundament für einen breiten Balkon oder Vorplatz bildeten. So ähnlich wie beim weltberühmten Balcony House im benachbarten Mesa Verde National Park.
Das restaurierte Balkon Haus und der 220-Zimmer-Superbau Cliff Palace (Klippenpalast) gelten dort als die Primadonnen unter den präkolumbianischen Felsnischensiedlungen der gesamten Four Corners-Region, dem Vierstaateneck von Arizona, Colorado, New Mexico und Utah. Der erste und einzige Nationalpark in den USA, in dem keine Naturwunder, sondern das Kulturerbe der Ureinwohner geschützt ist, feierte erst 2006 seinen 100. Geburtstag mit Besucherrekorden und Medienrummel.
Was sind schon hundert Jahre in der Jahrtausende alten Geschichte eines Indianervolkes? Ricky Hayes lächelt fein. Gleich nebenan, auf dem einsamen Reservationsgelände der Ute-Mountain-Indianer werden zwar vergleichbare Altertümer bewahrt. Trotzdem schwappte der Festtrubel nicht über die Grenzen des renommierten Nachbarn, der 1978 von der UNESCO zum Weltkulturschatz der Menschheit erklärt wurde. Ohne international imponierende Auszeichnung bleibt der abgelegene Stammespark der vielfach übersehene Stiefbruder von Mega Mesa Verde.
1981 beschlossen die Ute Mountain Ute, 505 Quadratkilometer ihres Reservats (Mesa Verde ist nur 21 Hektar klein) als Ute Mountain Tribal Park für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, erzählt Ranger Hayes. Heftige Diskussionen habe es zuvor gegeben. Sollte man das wenige, den Indianern gebliebene Land wirklich mit der Allgemeinheit teilen? Besonders die ältere Generation wollte die verlassenen Ruinen ungestört ruhen lassen. „Wenn den alten Leuten eine Tonscherbe im Weg war, bewegten sie sie mit einem Stock zur Seite und berührten sie nicht. Das bringt Unglück”, sagt Ricky und nickt ernst mit dem Kopf.
Auf dem schwer zugänglichen Gelände, das nur mit einem Native American Guide (eingeborenen Führer) betreten werden darf, blieben die fast vergessenen Klippenhäuser im Stammespark von Plünderern, Souvenirjägern und Hobby-Archäologen verschont. Im Gegensatz zum Besuchermagnet Mesa Verde, wo sämtliche beweglichen Artefakte entweder längst gestohlen oder sicher in Museen verschlossen sind, kann man im Ute Tribal Park tatsächlich noch kunstvoll bemalte Tonscherben, behauene Pfeilspitzen oder unter Steinen versteckte Kindersandalen aus geflochtenen Yucca Fasern finden. Manche Besucher fühlen sich daher beinahe wie Filmheld Indiana Jones, als hätten sie die mysteriösen Honigwabenhäuser zum ersten Mal für die westliche Welt entdeckt.
Die verfallenen Ruinen sind weder neu aufgebaut, aufgeräumt, noch ausgefegt. Es gibt keine Campingplätze und Erklärungstafeln, Wasserklosetts oder limitierte Eintrittskarten. Die staubigen Zufahrtsstraßen sind nicht asphaltiert und Trampelpfade nur dürftig befestigt. Stammesranger muten waghalsigen Besuchern tollkühne Kletterpartien zu und spielen sich nicht wie wohlwollende Kindergärtner auf, so wie ihre staatlich bestellten Kollegen im angrenzenden Nationalpark.
Zwar spult auch Ricky Hayes zu Beginn der Tagestour von insgesamt vier historischen Klippenbauten plus Felsmalereien das Ranger-Standardsprüchlein ab: „Habt Ihr genügend Trinkwasser dabei?” Aber ein belustigter Unterton ist dabei kaum zu überhören. Die Angst, zu dehydrieren, ist schließlich ein nationales Trauma im modernen Amerika, wo die obligatorische Plastikflasche auf jeden Bummel durch den Stadtpark mitgenommen werden muss. Erst recht also auf eine Wanderung durch die Wüstenwildnis. Der Ute-Indianer schleppt keine lästige Wasserbuddel mit sich herum. Dafür trägt er ein Taschenmesser am Gürtel: „Hier gibt’s Pumas.”
Landschaftlich hat sich nicht viel verändert, seit die Anasazi (Navajo: die Alten) hier siedelten. Staubwirbel tanzen durch den Canyon. Ein Gecko huscht lautlos über die Felswand. Über Leitern aus einzelnen Baumstämmen und in den Fels gehauene Kerben sind die Indianer einst in diese luftigen Behausungen geklettert. An manchen Stellen kann man noch Fußabdrucke im Gestein sehen. Ausgetreten und abgegriffen fühlen sich die Ränder an. Sand, Staub und Kiefernnadeln haben sich in den flachen Mulden angesammelt. Die wurden lange nicht mehr benutzt.
„Wollen wir weiter?”, fragt Ricky. Noch bewundern seine Schützlinge das Eagle’s Nest nur aus der Ferne. Wer das verfallene Luftschloss aber aus der Nähe bestaunen möchte, muss jetzt den Kopf einziehen. Vom Rastplatz mit Aussicht geht es über einen schmalen Felsvorsprung und unter einem Überhang hindurch. Haltegriffe oder Absperrseile gibt es selbstverständlich nicht. Zur Linken droht der Abgrund. Es ist nicht ganz klar, warum die Anasazi diese nur schwer zugängliche Gegend für sich gewählt haben. Aber schwindelfrei müssen sie gewesen sein. So viel steht fest.
Vor etwa 1400 Jahren ließen sich die ersten halbnomadischen Stämme auf diesem Hochplateau nieder, das heute Mesa Verde genannt wird – Spanisch für grüner Tisch. Als Ackerbauern wurden sie bald sesshaft und bauten sich Erdgrubenhütten. Von 750 an errichteten die Anasazi ihre Behausungen meist oberirdisch – in einer Art Reihenhausmethode. Je nach Bedarf wurden an bestehende Räume immer weitere angebaut – erst einstöckig, um das Jahr 1000 dann mehrstöckig. Pueblo (Dorf) nennt sich diese Kompakt-Bauweise. Ein ganzes Örtchen konnte aus einem einzigen verschachtelten Gebilde aus luftgetrockneten Lehmziegeln mit über 50 Zimmern bestehen.
Ca. 1200 verlegten die Anasazi ihre Siedlungen in Felsnischen. Hunderte von Klippenhäuser wie Eagle’s Nest klammerten sich fortan an das nackte Gestein. Vielleicht boten die schattigen Alkoven einen besseren Schutz vor der Witterung? Kristin Kuckelman schüttelt entschieden den Kopf. Wehrhaft aussehende Bauwerke wie Türme ohne Eingang im Erdgeschoss deuten auf Konflikte hin, erläutert die Wissenschaftlerin des Archäologischen Zentrums Crow Canyon in Cortez, etwa 30 km nördlich vom Ute Mountain Tribal Park. Die Felsenfestungen boten wirksamen Schutz vor Angreifern.
Um 1250 lebten mehrere zehntausend Menschen auf der von einem Schluchten-Zickzack zerschnittenen grünen Hochebene. Zu viele für die verfügbaren Ressourcen in dieser kargen Halbwüste, meinen Archäologen wie Kuckelman. Eine durch Baumringstudien nachweisbar langanhaltende Dürre von 1276-1299 machte ihre Lebenssituation nicht einfacher. Die Menschen von Mesa Verde hungerten. „Die Leute haben komisches Zeug gegessen”, weiß Kuckelman durch Ausgrabungen von Kochfeuerresten, „Luchse, andere Fleischfresser und ungenießbare Pflanzen, die vorher gemieden wurden.”
Wer wohl diesen Maiskolben abgenagt hat? Von der trockenen Luft konserviert, sieht er schwarz und schrumpelig aus und ist viel kleiner, als seine gentechnisch manipulierten Nachfahren. Der Finger-große Maiskolben liegt direkt neben einem abgewetzten Mahlstein auf einem schmalen Vorplatz. Hat ein Tour-Guide das antike Getreide absichtlich platziert. Vielleicht hat ihn ein Anasazi-Indianer an Ort und Stelle fortgeworfen? Das müsste dann so um 1300 gewesen sein, denn danach verschwanden die Anasazi.
Der Balanceakt über den riskanten Felsvorsprung ist tatsächlich geschafft, und endlich darf Eagle’s Nest aus der Nähe inspiziert werden: ein zerfallenes Durcheinander von ursprünglich 15 bis 25 Räumen und einer unterirdischen, Kiva genannten Zeremonienkammer, die einmal auf bis zu vier Stockwerke verteilt waren. Als Cowboys die geheimnisvollen Alkovenbauten um 1888 als erste Bleichgesichter erkundeten, waren die Anasazi längst fortgezogen und lebten in dem Vierstaateneck verstreut. Warum, ist nicht ganz klar. Selbst kriegerische Auseinandersetzungen entvölkern nicht zwangsläufig ganze Landstriche. Doch kein einziger Bewohner war offenbar in den Felsenhäusern wohnen geblieben – oder zurückgekehrt. Die vielen Theorien sind löchrig.
„Genau”, lächelt Ricky Hayes. „Wenn Archäologen mit solchen Ideen ankommen, merkt man gleich, dass sie sich niemals mit Native Americans (Ureinwohnern) umgeben haben.” Für den Indianer besteht kein Zweifel, dass die Wohnstätten aus spirituellen Gründen verlassen worden sind. 24 verschiedene Stämme wie die Hopi zum Beispiel erheben heute den Anspruch, von Mesa-Verde-Ureinwohnern abzustammen. Die noch rund 1600 Mitglieder zählenden Ute Mountain Ute – traditionell Prärieindianer, die keine Steinhäuser bauten – gehören zwar nicht dazu, betrachten sich wie Ranger Ricky aber als Verwandte, pflichtbewusste Verwalter des ihnen anvertrauten Kulturschatzes und Übermittler seiner innewohnenden Botschaft.
Nach einer Jahrhunderte alten Hopi-Prophezeiung geht die bestehende Welt unter, wenn Mutter Erde nicht länger verehrt wird, glaubt Hayes. Um nicht den Verführungen des easy life, des bequemen Lebens nachzugeben, sei den Hopi das Weiterziehen in eine noch unwirtlichere Gegend nach Arizona befohlen worden. So lange sie dort die überlieferten Riten praktizierten, den Sonnentanz feierten und das Schlagen ihrer Trommeln über das Rückgrat der Erde – den Rocky Mountains – zu den Polen vibriere, verließen die dort wachenden Zwillinge nicht ihre Posten. „Die Welt bleibt im Gleichgewicht und wird vom Untergang verschont.”
Für Ricky Hayes sind die verlassenen Klippenhäuser eine stille Mahnung, dass sich die Menschheit an einem Scheideweg befindet, sich selbst zu zerstören. „Aber wenn wir so weiter machen”, sagt der Indianer leise, „sieht es nicht gut aus.”
Wichtige Informationen:
So kommen Sie zum Ute Mountain Tribal Park:
Das 9000-Einwohner Städtchen Cortez im Südwesten den US-Bundesstaates Colorado ist das Tor zu Mesa Verde und dem Ute Tribal Park. Internationale Flüge landen hier nicht. Lufthansa und United Airlines fliegen z.B. non-stop von Frankfurt oder München nach Denver. Von hier aus geht es am besten mit dem Mietwagen weiter. Für die rund 650 Kilometer von Denver nach Cortez braucht man etwa acht Autostunden. Den Mietwagen reservieren Sie sich am besten schon in Deutschland.
Startpunkt für Touren in den Ute Tribal Park ist das Tribal Park Visitor Center, an der staubigen Highway-Kreuzung der Straßen 160/491, etwa 32 km südlich von Cortez. In der ehemaligen Tankstelle sind einige Artefakte wie Steinscherben oder aus Tierknochen gefertigte Nadeln ausgestellt. Wer kein Trinkwasser mitgebracht hat, kann hier Plastikflaschen kaufen. Außerdem sollten Sie mit Sonnenhut und -lotion, Insektenschutz und festen Wanderschuhen ausgerüstet sein.
Grundsätzlich werden in der Saison von März bis November täglich Touren angeboten. Auf eigene Faust darf der Stammespark nicht erkundet werden. Die Begleitung durch einen indianischen Ranger ist Vorschrift. Eine Reservierung ist dringend angeraten. Nur dann ist ein Guide auch sicher verfügbar.
Eine Halbtagestour (9.00 Uhr – 12.00 Uhr) kostet $30 pro Person, die Ganztagestour (9.00 Uhr – 16.30 Uhr) $49. Private Touren werden für $100 pro Person angeboten. Es kann mit Kreditkarten bezahlt werden.
Auf der 65 km langen Halbtagstour werden Felsmalereien gezeigt, Aussichtspunkte und oberflächliche Siedlungsstätten, die sich jeweils nur wenige Schritte von der durch den Park führenden Schotterstraße befinden.
Die etwa doppelt so lange und körperlich anstrengendere Ganztagestour beinhaltet einen etwa 5 km langen Fußmarsch auf unbefestigten Wegen und waghalsiges Klettern über Holzleitern zu vier erhaltenen Klippenhäusern in Lion Canyon. Detaillierte Infos zu den Touren und Kosten findet man auf der Webseite
Ute Mountain Tribal Park:
Tel.: 970-565-3751 Durchwahl 330
http://www.utemountaintribalpark.info
Mesa Verde National Park:
www.nps.gov/meve
Photos: Heike Schmidt, Ute Mountain Tribal Park, Mesa Verde County
*Diese Seite enthält Affiliate-Links für Produkte, die ich kenne und vorstelle. Wenn du auf den Link klickst und z.B. eine Buchung vornimmst, verdiene ich möglicherweise etwas Geld für einen Kaffee, den ich verspreche zu trinken, während ich weitere hilfreiche Inhalte wie diesen erstelle. Die Links haben selbstverständlich keinen Einfluß auf die Preise bzw. meine Objektivität in der Berichterstattung.